Psychische Belastungen am Arbeitsplatz – ein Praxisbeispiel

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Die psychischen Belastungen bei der Arbeit steigen, wie die Erfahrungen vieler Führungskräfte und Mitarbeiter sowie Statistiken von Krankenkassen und Rentenversicherungsträgern belegen. Wer schon einmal erlebt hat, dass ein Mitarbeiter plötzlich und/ oder langfristig ausfällt, ohne dass vorher Anzeichen zu erkennen waren, erlebt die Folgen lang anhaltender negativer psychischer Belastungen bei der Arbeit hautnah mit: Die finanziellen Kosten, das menschliche Leid und auch die Folgen für die Kollegen.

Was sind psychische Belastungen bei der Arbeit?

Psychische Belastungen bei der Arbeit sind nach der DIN 10075 nicht per se negativ, sondern neutral. Anforderungen bzw. Belastungen können demnach sowohl als positiv (Ressourcen, optimale Belastung) als auch negativ (Stressoren, Fehlbelastungen) betrachtet werden sowie positive oder negative Wirkungen (Optimale Beanspruchung, Fehlbeanspruchung) haben. Die Wirkung und Beurteilung einer psychischen Belastung hängt vor allem von deren Intensität, Dauer und der Kombination mit anderen Belastungen ab. Zudem beeinflussen die psychischen Merkmale eines Menschen diesen Prozess, wie die Resilienz oder Persönlichkeitseigenschaften wie Emotionale Stabilität bzw. Neurotizismus.

Jürgen Walter, Experte für Arbeits- und Sportpsychologie, Düsseldorf
Dipl.-Psych. Jürgen Walter, Experte für Arbeits- und Sportpsychologie, Düsseldorf

Was müssen Unternehmen und Verwaltungen tun?

Die Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung ist seit 2013 ausdrückliche Pflicht und im Arbeitsschutzgesetz verankert. Der Prozess besteht aus sieben Schritten:

  • Festlegen von Tätigkeiten/Bereichen
  • Ermittlung der psychischen Belastung der Arbeit
  • Beurteilung der psychischen Belastung
  • Entwicklung und Umsetzung von Maßnahmen
  • Kontrolle der Wirksamkeit der umgesetzten Maßnahmen
  • Aktualisierung/Fortschreibung der Gefährdungsbeurteilung
  • Dokumentation

Merkmalsbereiche der Gefährdungsbeurteilung

Die Gemeinsame Deutsche Arbeitsschutzstrategie unterscheidet fünf Merkmalsbereiche, die es bei der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung zu berücksichtigen gilt:

  1. Arbeitsinhalt/Arbeitsaufgabe (z.B. Vollständigkeit der Aufgabe, Handlungsspielraum, Verantwortung)
  2. Arbeitsorganisation (z.B. Arbeitszeit, Arbeitsablauf, Kommunikation/Kooperation)
  3. Soziale Beziehungen (z.B. Kollegen, Vorgesetzte)
  4. Arbeitsumgebung (z.B. Physikalische und chemische Faktoren, Arbeitsmittel)
  5. Neue Arbeitsformen

In der Broschüre, die Sie hier herunterladen können, finden Sie zudem Beispiele für kritische und negative Auswirkungen.

Die Umsetzung der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung

Zur Umsetzung der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung stehen Ihnen sehr viele Instrumente und Methoden zur Verfügung. Diese lassen sich jedoch in drei grundlegende Verfahren einordnen:

  • Analyseworkshops
  • Beobachtungsinterview
  • Mitarbeiterbefragung

Diese werden in der Broschüre der Gemeinsamen Deutsche Arbeitsschutzstrategie wie folgt beschrieben:

Analyseworkshops:

Beschäftigte beschreiben und beurteilen gemeinsam mit Führungskräften und fachkundigen Experten die psychische Belastung der Arbeit im betrachteten Bereich.

Beobachtungsinterview:

Geschulte Personen beurteilen die psychische Belastung auf Basis ihrer Beobachtungen der Tätigkeit, i.d.R. ergänzt um (Kurz-)Interviews mit den dort Beschäftigten.

Mitarbeiterbefragung:

Beschäftigte geben in standardisierten Fragebögen ihre Einschätzung zur Ausprägung der psychischen Belastung ihrer Arbeit an.

Die Stärken und Grenzen dieser drei Ansätze finden Sie in der genannten Borschüre wie auch Hinweise zum Vorgehen und Qualitätskriterien zu den Verfahren.

Diese Ansätze können je nach Situation auch kombiniert eingesetzt werden. Häufig macht es Sinn, zuerst mit einer „Grobanalyse“ z.B. in Form einer Mitarbeiterbefragung oder Prüf- und Checklisten zu beginnen. Im Anschluss daran können dann identifizierte Problemschwerpunkte mit einer „Feinanalyse“ mittels Analyseworkshops oder Beobachtungsinterviews bearbeitet werden.

Wie im Blogartikel zu Inhalten und Verfahren der Gefährdungsanalyse beschrieben, stehen Ihnen viele Instrumente zur Verfügung. Wie sieht nun eine Anwendung in der betrieblichen Praxis aus?

Praxisbeispiel: Die Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung in einer Klinik

In einer Klinik aus Nordrhein-Westfalen häufen sich die Beschwerden von Mitarbeitern zu ihrer Arbeitssituation: Eine Reihe von Pflegekräften und einige Ärzte beklagen sich vor allem darüber, dass zu viele Patienten versorgt werden müssen, die Dokumentationspflichten immer mehr Zeit in Anspruch nehmen und daher jeder Mitarbeiter regelmäßig zu viele Überstunden leistet.

Die neue ärztliche Leiterin der Klinik wird zudem bei einem Gespräch mit dem Justiziar auf die seit 2013 geltende ausdrückliche gesetzliche Pflicht für Arbeitgeber hingewiesen, die Gefährdung durch psychische Belastungen zu ermitteln und zu beurteilen. In dem Gespräch geht es auch um die rechtlichen und finanziellen Folgen, die entstehen könnten, wenn dies unterbleibt und Mitarbeiter vor Gericht ziehen.

Die Klinikleitung beschließt daher, in den Prozess der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung einzusteigen: Nachdem das Konzept hierzu entwickelt und die Vorbereitungen mit Unterstützung eines externen und spezialisierten Dienstleisters abgeschlossen ist, erstellt dieser eine Online-Mitarbeiterbefragung zur psychischen Belastung für die Klinik.

Der Hauptteil der Online-Mitarbeiterbefragung besteht aus dem Kurzfragebogen zur Arbeitsanalyse (KFZA). Dieses Instrument von Prümper, Hartmannsgruber und Frese (1995) hat sich bei vielen Projekten, Arbeitstätigkeiten und Branchen bewährt, und es wird von der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin zur Analyse der psychischen Belastung bei der Arbeit empfohlen. In Österreich nutzt es die Allgemeine Unfallversicherungsanstalt zur „Evaluierung psychischer Belastungen am Arbeitsplatz“, wie die Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung im dortigen ArbeitnehmerInnenschutzgesetz heißt.

Der KFZA gehört zur Gruppe der Screening-Verfahren, d.h. es ist ein Übersichtsverfahren zur Grobanalyse, die meist zu Beginn einer Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung eingesetzt werden. Deren Ergebnisse sollen durch Feinanalysen mit anderen Instrumenten wie Interviews und Workshops vertieft und ergänzt werden. Zudem wird der Fragebogen auch später nach der Entwicklung und Umsetzung von Veränderungsmaßnahmen eingesetzt, um deren Wirksamkeit zu überprüfen – ebenfalls ein notwendiger und wichtiger Schritt bei der Gefährdungsbeurteilung.

Neben dem Kurzfragebogen zur Arbeitsanalyse werden zusätzliche Fragen in die Mitarbeiterbefragung mit aufgenommen, die sich auf allgemeine Angaben zur Tätigkeit (z.B. Arbeitszeit) und zum Arbeitsbereich (z.B. Station) sowie auf Besonderheiten der Klinik beziehen.

Teilnehmer: An der Online-Mitarbeiterbefragung beteiligen sich 523 Personen: Darunter befinden sich 238 Pflegekräfte (45%), 124 Ärztinnen und Ärzte (24%) sowie 161 Personen aus anderen Bereichen (z.B. Medizin-Technik, Verwaltung). 371 Teilnehmer (71%) sind Frauen, 152 Personen (29%) sind Männer. Das Durchschnittsalter beträgt 39 Jahre.

Beim Merkmal „Quantitative Arbeitsbelastung“ sehen wir zwei auffällige Werte nahe bei 4 für die Pflegekräfte und die Ärztegruppe, die deutlich über dem Grenzwert 3,5 und noch klarer über dem Vergleichswert liegen. Die „Quantitative Arbeitsbelastung“ ist somit hoch gestaltungsbedürftig. Mit anderen Worten: Sie stellt eine hohe psychische Fehlbelastung für die medizinischen Mitarbeiter dar und muss reduziert werden, da sie nachweislich mit einer Gesundheitsgefährdung verbunden ist.

Als positiv ist die Ausprägung des Merkmals „Soziale Rückendeckung“ zu beurteilen: Hier findet sich bei den Klinikmitarbeitern ein Wert, der über dem Grenzwert liegt und daher nur einen geringen Gestaltungsbedarf aufweist. Mit Abstrichen gilt dies auch für das Arbeitsmerkmal „Zusammenarbeit“.

Sichtbar werden jedoch auch Unterschiede in der psychischen Belastung zwischen den Pflegekräfte und den Ärzten, vor allen bei den Arbeitsmerkmalen Handlungsspielraum, Vielseitigkeit und Ganzheitlichkeit: Diese Werte liegen für die Pflegekräfte im Schnitt unter denen der Ärzte und zeigen einen mittleren Gestaltungsbedarf an.

Deutlich besser als in der Vergleichsgruppe sind jedoch die „Betrieblichen Leistungen“ bei den Pflegekräften und Ärzten ausgeprägt, bei denen wir dennoch einen mittleren Gestaltungsbedarf in Bezug auf die damit erfassten Weiterbildungs- und Karrieremöglichkeiten finden.

Als weitere Ressource mit einer positiven Ausprägung sehen wir schließlich den niedrigen Wert der Pflegekräfte und Ärzte beim Merkmal „Qualitative Arbeitsbelastung“: Beide Gruppen werden somit fast optimal in Bezug auf die Komplexität und die Konzentration ihrer Arbeit gefordert.

Zusätzlich finden wir bei den Ärzten als Ressourcen die positiven Ausprägungen der Werte bei der Vielseitigkeit sowie der Ganzheitlichkeit der Arbeit, also einer arbeitspsychologisch „vollständigen“ Tätigkeit, die Planung, Durchführung und Kontrolle der Ergebnisse umfasst.

Die hohe psychische Fehlbelastung durch die „Quantitative Arbeitsbelastung“ ergibt sowohl für die Pflegekräfte als auch für die Ärzte einen hohen Gestaltungsbedarf. Dies bedeutet, dass die Mitarbeiter unter einem hohen Zeitdruck stehen und zu viel Arbeit haben. Dies stellt nicht nur eine Gefährdung der Gesundheit und Sicherheit der Klinikmitarbeiter dar, sondern erhöht auch das Risiko von Behandlungsfehlern bei Patienten, die schwerwiegende Folgen haben können.

Die „Quantitative Arbeitsbelastung“ sollte daher vorrangig und zügig mit wirksamen Maßnahmen verringert werden.

Der letzte Schritt der Online-Mitarbeiterbefragung besteht in der Rückmeldung der Ergebnisse an die Beschäftigten der Klinik. Dafür empfehlen sich für einen ersten Überblick die regelmäßigen Besprechungen auf den Stationen, ein Aushang dort sowie die Zusendung einer Zusammenfassung per E-Mail.

Im Anschluss daran werden in Workshops und/oder Gruppeninterviews mit den Mitarbeitern die Ergebnisse der Online-Mitarbeiterbefragung vertieft und erweitert (dies kann ggfs. mit dem nächsten Schritt kombiniert werden).

Zum Schluss

Das Thema psychische Belastung bei der Arbeit wird seit den 70er Jahren in Praxis- und Forschungsprojekten, anfangs vor allem unter dem Begriff „Stress“, bearbeitet. Mittlerweile hat sich das Feld etabliert, Begriffe wurden definiert (siehe z.B. die DIN 10075) und zahlreiche Verfahren zur Analyse und Maßnahmen zu Gestaltung guter Arbeit sind entstanden. Zudem dokumentieren viele Praxisbeispiele den Nutzen und die Wirksamkeit, indem sie den Krankenstand und die Fluktuation der Beschäftigten senken sowie das Wohlbefinden und die Leistung fördern. Auch viele betriebliche Organisationsstrukturen wie der Arbeitskreis Gesundheit haben sich des Themas angenommen und betriebliche Akteure wie Sicherheitsfachkräfte werden in ihrer Ausbildung mit dem Thema psychische Belastung vertraut gemacht. Eine wichtige Rolle spielen hierbei auch externe Experten, die durch Beratungen, Projekte oder Trainings ihre Kompetenzen miteinbringen und Verantwortliche bei diesem komplexen Thema unterstützen.

Unternehmen wie auch Verwaltungen können somit auf diesem Wissen und Erfahrungen aufbauen, um die gesetzliche Pflicht zur Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung sicher, effektiv und nutzenbringend zu erfüllen.

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Jürgen Walter
Von Jürgen Walter

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