Analyseverfahren im Betrieblichen Gesundheitsmanagement

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„Wir haben so viele Gesundheitsangebote, regelmäßige Teamaktionen und sogar ein eigenes Fitnesstudio – trotzdem steigen die Burn-Out Fälle“, so berichtete letztens die Personalchefin eines mittelständischen Unternehmens im Rahmen eines Kick-Off Meetings. In der Praxis sind immer wieder gut gemeinte, vereinzelte Bemühungen im Rahmen des Betrieblichen Gesundheitsmanagements zu finden, die leider selten auf fruchtbaren Boden treffen. Damit Gesundheitsangebote nicht einfach nur jede Menge Geld kosten, ihr Ziel aber verfehlen bzw. bestenfalls nur als Feigenblatt dienen können, ist es von besonderer Bedeutung, die Ausgangslage zu analysieren, um bedarfsgerechte Maßnahmen entwickeln zu können. Dieser Artikel stellt kurz das theoretische Analysekonzept vor und gibt einen Überblick über verschiedene Analyseverfahren.

 

Das Belastungs-Beanspruchungs-Konzept als Analyserahmen

Einen Arbeitsplatz ohne jegliche Stressoren oder Belastungen gibt es nicht. Die Ausrichtung einer Bedarfsanalyse im Gesundheitsmanagement ist daher nicht das Aufspüren und Abschaffen sämtlicher Belastungen, sondern das Erkennen von Ungleichgewichten zwischen Belastungen, Beanspruchungen und deren Folgen. Doch was genau ist mit Belastung, Beanspruchung und Folgen gemeint?

Belastungen bezeichnen die „Gesamtheit aller erfassbaren Einflüsse, die von außen auf den Menschen zukommen und psychisch auf ihn einwirken“. Sie ergeben sich aus den Merkmalen der Arbeitsaufgabe (z.B. über Handlungsspielräume), der Arbeitsumgebung (z.B. über Lärm oder Hitze), der Arbeitsorganisation (z.B. über Kommunikationswege) und aus sozialen Beziehungen (z.B. über Vorgesetzte).

Beanspruchungen werden definiert als „unmittelbare Auswirkung der psychischen Belastung im Individuum in Abhängigkeit von seinen jeweiligen überdauernden und augenblicklichen Voraussetzungen, einschließlich der individuellen Bewältigungsstrategien“. So kann sich ein Mitarbeiter durch ständige E-Mail Fluten negativ beansprucht, also  z.B. überfordert und unter Zeitdruck fühlen. Einen anderen Mitarbeiter beansprucht dies jedoch gar nicht oder kaum – er kann das Lesen von möglicherweise unwichtigen Mails problemlos verschieben und fühlt sich dadurch nicht unter Druck gesetzt.

Folgen können positiv und negativ sein und sie können kurzfristig auftreten oder sich langfristig manifestieren:

Folgen der Belastungen und Beanspruchungen: kurzfristig langfristig
positiv Motivationssteigerung Weiterentwicklung von Kompetenzen
negativ Ermüdung Ansteigende Fehlzeiten/

AU-Fälle

 

→  Eine Belastung (beruflich als auch privat) ist erst einmal nichts Negatives, sondern ein Einfluss auf die Psyche des Individuums.

→ Die Auswirkung der Belastung wird Beanspruchung genannt. Ob diese kurzfristig, langfristig, positiv oder negativ ausfällt, hängt von den individuellen Voraussetzungen und Bewältigungsmöglichkeiten ab.

→ Individuelle Voraussetzungen sind beispielsweise Erfahrungen, Kenntnisse, Motivation, Fähigkeiten, Persönlichkeitseigenschaften, Gesundheitszustand, Alter, soziale Unterstützungsmöglichkeiten etc.

 

Dieses Rahmenmodell verdeutlicht, dass es verschiedene Ansatzpunkte der Analyse und dementsprechend der Handlungsmöglichkeiten gibt. Es gilt, sowohl die Belastungen zu identifizieren, als auch zu analysieren, welche Beanspruchungen überhaupt daraus entstehen. Darüber hinaus lässt sich ermitteln, ob Belastungen reduziert / verändert werden müssen oder ob die Stärkung individueller Bewältigungsmöglichkeiten im Vordergrund stehen sollte. Ergeben sich z.B. negative Folgen, wie sinkende Motivation und steigende Resignation dadurch, dass relevante strategische Informationen durch die Führungskräfte zurückgehalten werden, so wird die Einführung eines frei wählbaren Home-Office-Tages diese negativen Folgen schlimmstenfalls nur weiter verschlechtern.

 

Analyseverfahren – ein Überblick

Das Repertoire an Analyseverfahren reicht von Krankenstatistiken bis hin zu moderierten Gruppenworkshops. Grundsätzlich sollte daher die Frage „Was will ich analysieren?“ zu Beginn des Analyseprozesses stehen. Zusätzlich sollte das Ziel der Analyse festgelegt werden:

  • Sollen z.B. harte Zahlen und Fakten zu Fehlzeiten ermittelt werden?
  • Steht die Ermittlung von Ursachen für bestimmte Vorkommnisse im Vordergrund?
  • Interessieren spezifische Meinungen, Konsequenzen und Verbesserungsmaßnahmen, die von Seiten der Mitarbeiter generiert werden?

Für die Beantwortung dieser und vieler weiterer Fragen bieten sich unterschiedliche Verfahren an. Grundsätzlich können diese Verfahren in quantitative und qualitative Verfahren unterteilt werden. Quantitative Verfahren verfolgen das Ziel, eindeutige Zahlen und Kennwerte von möglichst großen Gruppen zu liefern. Typische Ergebnisse quantitativer Verfahren sind z.B. die durchschnittliche Arbeitsunfähigkeitsdauer (AU-Dauer) von Mitarbeitern in einem Betrieb oder die mittlere Einschätzung von Mitarbeitern einer bestimmten Abteilung, inwiefern sie bei der Arbeit durch Unterbrechungen gestört werden (nie, selten, häufig, immer). Das Ziel qualitativer Verfahren hingegen ist nicht die Ermittlung von Durchschnittswerten, Häufigkeiten oder Kennzahlen, sondern die detaillierte Erfassung von Meinungen, Zusammenhängen, Ursache-Wirkungs-Prinzipien und Vorschlägen. Es geht nicht darum, das allgemeine Befinden oder Verhalten möglichst prägnant darzustellen, sondern dieses zu ergründen, zu verstehen, wie es dazu kommt oder kommen konnte und was in Zukunft zu beachten ist.

Quantitative Verfahren 1: Kassendaten und Gesundheitsberichte

Die Datenbasis liefern hier die anonymisierten AU-Daten der Krankenkassen, Arbeitgeberdaten und entsprechende Referenzwerte. Klassische Kassendaten (AU-Daten) sind AU-Dauer, AU-Fälle, Diagnosen und ob ein Arbeits- oder Wegeunfall vorlag. Die Gesundheitsberichte bzw. AU-Daten können nach Maßgabe des Arbeitsgebers differenziert betrachtet und ausgewertet werden, z.B. nach Abteilungen, Standorten oder Schichtsystemen. Zusätzlich können die Daten mit Referenzwerten aus bundesweit ermittelten Krankenkassendaten verglichen werden. Üblicherweise findet dieser Vergleich mit dem Gesamt-Bundesergebnis und dem Gesamt-Branchenergebnis statt.

Da es sich bei diesem Verfahren um eine äußerst sensible Datenbasis handelt und daher Anonymisierung und Datenschutz besonders zu beachten sind, müssen entsprechende Mindestgruppengrößen eingehalten werden. Möchte ein Unternehmen die AU-Daten z.B. getrennt nach Standorten analysieren, so müssen pro Standort mindestens 50 Personen vorhanden sein. Krankenkassen dürfen erst dann die Ergebnisse ausweisen, wenn mindestens 5 Fälle / erkrankte Personen in jeder Untergruppe (jedem Standort) vorhanden sind.

Die Vorteile von Gesundheitsberichten: Es handelt sich um eindeutige Daten, die keinerlei Erklärung mehr benötigen. Zahlen und Fakten sorgen für eine hohe Vergleichbarkeit zwischen Branchen, Unternehmen, Standorten und ermöglichen mehrjährige Verlaufsdarstellungen.

Die Nachteile von Gesundheitsberichten: Neben den erwähnten Datenschutzrestriktionen und der daraus resultierenden, notwendigen Unternehmensgröße, können die harten Zahlen zu Fehlinterpretationen führen. Denn diese Daten liefern weder Anhaltspunkte zu den Ursachen noch zu geeigneten Maßnahmen.

 

Quantitative Verfahren 2: Mitarbeiterbefragungen

Ein häufig eingesetztes, quantitatives Verfahren ist die Mitarbeiterbefragung mit Hilfe von Fragebögen, die entweder als Papierversion oder online ausgefüllt werden können. Die Mitarbeiter beantworten dabei geschlossene Fragen durch das Ankreuzen vorgegebener Antwortalternativen (ja oder nein / trifft zu, trifft  eher zu, trifft eher nicht zu, trifft nicht zu). Aus den Antworten können Häufigkeiten oder sogar Durchschnittswerte errechnet werden. Typische Themen, die im Rahmen einer Mitarbeiterbefragung erhoben werden, ergeben sich aus den typischen Arbeitsbelastungen: Es geht um die Einschätzung bezüglich Arbeitszeit, Arbeitsmittel, Arbeitsorganisation, sozialer Beziehungen etc. Die Mitarbeiterbefragung im Rahmen des BGM deckt sich daher häufig mit der schriftlichen, standardisierten Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen (mehr dazu im Blogartikel vom 11.06.2018). Zusätzlich zu den Belastungen können im Rahmen einer Mitarbeiterbefragung auch Zusammenhänge zwischen Ursachen und Folgen ermittelt werden. Dazu können Fragen zur Arbeitszufriedenheit, zur subjektiven Einschätzung des Gesundheitszustands, zu Präsentismus und Absentismus und zu arbeitsbedingten Belastungsfolgen gestellt werden. Die Aufnahme weiterer Fragen, wie z.B. zur Sammlung von Verbesserungsvorschlägen, ist zusätzlich möglich.

Eine Mitarbeiterbefragung ist immer anonym und freiwillig und darüber hinaus mitbestimmungspflichtig – Betriebs- bzw. Personalrat müssen also rechtzeitig informiert und eingebunden werden.

Besonders wichtig zu beachten ist, dass die Mitarbeiterbefragung gut vorbereitet und angekündigt wird, sowie dass ihre Ergebnisse transparent kommuniziert und entsprechende Maßnahmen abgeleitet werden. Eine schlechte Planung und Ankündigung kann dazu führen, dass kaum jemand teilnimmt, das Verfahren der Teilnahme unklar ist, Unsicherheiten bestehen, inwiefern die Teilnahme überhaupt relevant ist und wer die Ergebnisse für welche Zwecke nutzt. All das erhöht das Misstrauen gegenüber der Befragung. Werden die Ergebnisse nicht kommuniziert und ergeben sich aus der Befragung keine Veränderungen oder „sichtbare“ Verbesserungen, so entsteht der Eindruck seitens der Mitarbeiter, dass ihre Meinung doch nicht zählt und sowieso nichts für sie getan wird. Die Teilnahmebereitschaft für zukünftige Befragungen wird drastisch sinken.

 

Qualitative Verfahren 1: Stakeholder-Analyse und Experteninterviews

Das Betriebliche Gesundheitsmanagement – und das Thema Gesundheit im Allgemeinen – steht einer Vielzahl von Meinungen, Einflüssen und Interessensgruppen gegenüber. Die Stakeholder-Analyse verfolgt das Ziel, die unterschiedlichen Interessensträger (englisch: stakeholder) zu ermitteln, ihre Entscheidungen zu verstehen sowie zu analysieren, inwiefern unterschiedliche Gruppen aktiv oder passiv, direkt oder indirekt von Entscheidungen und Maßnahmen des Gesundheitsmanagements betroffen sind.

Hierfür müssen zunächst alle Projektbetroffene bzw. Interessensgruppen identifiziert werden. Diese können beispielsweise Auftraggeber, Projektleiter, Betriebsrat, Geschäftsführung, Mitarbeiter, Datenschutzbeauftragter etc. sein. Typische Leitfragen der Stakeholder-Analyse betreffen die Interessen, Befürchtungen, Einflüsse und mögliche Interessenskonflikte der unterschiedlichen Interessensgruppen. Mit Hilfe von Experteninterviews können diese Leitfragen gezielt gestellt und beantwortet werden, wobei jeweils einzelne Personen der unterschiedlichen Interessensgruppen als Spezialisten und Experten ihrer spezifischen Sichtweise exemplarisch als Vertreter ihrer Gruppe befragt werden. Mögliche Beispielfragen für ein Experteninterview sind:

  • „Ist das BGM Ihrer Meinung nach ausreichend in der Unternehmenskultur verankert?“
  • „Was sehen Sie als die stärksten Belastungen der Belegschaft an?“
  • „Welche Stärken hat das bisherige BGM? Was funktioniert gut?“

Qualitative Verfahren 2: Arbeitssituationsanalyse

Die Arbeitssituationsanalyse stellt ein weiteres qualitatives Interviewverfahren dar, jedoch werden hierbei keine Experten, sondern ganze Gruppen befragt. Die Analyse erfolgt im Workshop-Format mit ca. 10-15 Teilnehmern und behandelt drei zentrale Kernfragen: Erstens, ob eine Veränderung der Arbeitssituation als notwendig erachtet wird, zweitens, in welchen Bereichen eine Veränderung angestrebt werden sollte und drittens, welche wichtigen Wünsche zur Verbesserung der Arbeitssituation vorliegen. Wie auch im Bereich der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen (mehr dazu im Blogartikel vom 11.06.2018) sollten Mitarbeiter und Führungskräfte getrennt befragt werden. Außerdem empfiehlt es sich, den Analyseworkshop extern moderieren und protokollieren zu lassen, um eine unvoreingenommene, offene und entspannte Interviewanalyse zu ermöglichen.

Neben den hier aufgeführten Analyseverfahren existieren viele weitere Möglichkeiten, den Belastungen und Beanspruchungen eines jeweiligen Arbeitsplatzes auf die Schliche zu kommen. In der Praxis ist stets abzuwägen, welches Verfahren am besten zu den aufgekommenen Fragen, zum Unternehmen und v.a. zu den Mitarbeitern passt: Denn ohne ihre ehrlichen und offenen Auskünfte, Einschätzungen, Meinungen und Ideen kann ein Betriebliches Gesundheitsmanagement keine dauerhaften Erfolge erzielen.

Über den Autor

Prof. Dr. Nora Walter
Von Prof. Dr. Nora Walter

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