Sind Seminare ein Auslaufmodell?

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Präsenzlernen und E-Learning in der beruflichen Fortbildung

Neuerungen werden in ihren kurzfristigen Auswirkungen meist überschätzt, in ihren langfristigen Folgen jedoch unterschätzt. Und so hatten sie zunächst unrecht, die Anbieter von Webinaren und anderen Online-Lernformen, als sie auf der Messe Zukunft Personal in Köln 2008 verkündeten: „Präsenz-Trainer, euer Geschäftsmodell läuft aus!“. Heute, gut zehn Jahre später, sieht man einige Veränderungen in der Fortbildungslandschaft. Doch das Webinar als eierlegende Wollmilchsau der Fortbildung hat sich auch nicht durchgesetzt. Als langjährige Trainerin möchte ich Sie an meinen Erfahrungen teilhaben lassen.

Seminare in den 1980er Jahren

Das Seminar begann um 11.00 Uhr. Die Teilnehmer konnten am Morgen anreisen, obwohl der Seminarort bewusst abgeschieden lag. Die erste Einheit bis zur Mittagspause umfasste eine Übersicht über den Seminarablauf und ein ausführliches Kennenlernen. Zeitdruck war da nicht! Die Mittagspause dauerte anderthalb bis zwei Stunden, so dass die Teilnehmer nach dem Essen bei einem Spaziergang oder einer kleinen Radtour frische Luft schnuppern konnten. So waren sie aufnahmefähig, als man sich zu der vierstündigen Nachmittagseinheit traf.

 Auch langwierige Übungen waren möglich. Ich erinnere mich besonders an eine Seminarreihe „Kommunikation und Kooperation“ mit Gruppenaufgaben wie der NASA-Übung, die gut und gerne auch mal drei Stunden dauern konnte. Und danach kam noch die Auswertung… Die Eindrücke konnten sorgfältig sortiert werden, alle Fragen beantwortet.

Das Seminar umfasste vier Tage. Ohne Handy und Internet war man der Gruppe „ausgeliefert“, d. h. man lebte die Seminar-Auszeit in einer neuen sozialen Umgebung, die Lernerfahrungen auch neben dem offiziellen Lehrplan ermöglichte. Jeder taute auf, nach und nach, und zeigte sich ohne die übliche berufliche Fassade. So konnte man sich auf Erlebnisse einlassen, die auch Jahre später noch in Erinnerung blieben.

In der Regel war das Seminar für jeden etwas Neues. Ein Seminarplatz wurde als Wertschätzung der Firma empfunden. Gute Seminare hatten lange Wartelisten. Selbst wenn einzelne Teilnehmer das Seminar von ihrem Chef verordnet bekommen hatten, wurden sie schnell in die allgemeine Stimmung von Neugier und Dankbarkeit für die Lernmöglichkeit integriert.

„Leider haben kurzfristig noch 5 Teilnehmer abgesagt“

Das ist die Seminarwirklichkeit in den letzten Jahren. An den HR-Abteilungen liegt es nicht! Sie haben in der Regel den Bedarf von den Fachabteilungen gemeldet bekommen, das Seminar organisiert und die Teilnehmer eingeladen. Wie kommt es zu den oft hohen Absagequoten?

  • Die Personaldecke ist dünn.
  • Seminare genießen keine hohe Priorität mehr.
  • Der Zeitgeist fördert die Kurzfristigkeit.

Ein Seminar ist etwas, was als erstes gekippt wird, wenn ein Kollege krank wird oder ein Projekt in Verzug gerät. Was durchaus keine seltenen Ereignisse sind! Bis zum letzten Tag versucht man noch, alles unter einen Hut zu bringen, so dass die Absagen superkurzfristig kommen.

Gruppendynamik

Auch wenn das Seminar nicht komplett abgesagt wird, heißt es für den Trainer: Neuplanung! Die Didaktik für 12er-Gruppen ist eine komplett andere als für 6er-Grüppchen. Was ist in kleinen Seminargruppen anders? Ausgefeilte Übungen mit Planspiel-Charakter funktionieren nicht. Gruppenarbeiten verändern ihren Charakter, wenn man dauernd mit den gleichen Personen zusammenarbeitet. Die Teilnehmer können sich kaum aus dem Weg gehen, weshalb ein einzelner Konflikt oder ein „spezieller“ Teilnehmer das ganze Seminar dominieren kann. Die belebende Vielfalt fehlt eben.

Unterschiedliches Vorwissen

An eine Vorstellungsrunde in einem Seminar zur Kundenorientierung erinnere ich mich besonders. „Ich bin sehr neugierig! Das ist meine erste Stelle nach der Uni, und der Umgang mit den Kunden ist doch wichtig, oder?“, so der eine Teilnehmer. Und daneben dann dieser: „Ich war schon in verschiedenen Vertriebsorganisationen tätig, habe auch selbst Verkaufsschulungen durchgeführt. Ob Sie mir noch was Neues sagen können?“.

Bei einer solchen Bandbreite von Vorwissen kann ich als Trainer kaum alle zufriedenstellen. Wenn ein Teilnehmer etwas schon kennt, ist es für ihn Zeitverschwendung. Stelle ich dagegen Themen nur kurz als Refreshing vor, so kommen derjenigen nicht mit, die das zum ersten Mal hören. Zudem ist es bei Verhaltenslernen ganz schön schwierig, den Kenntnisstand einzuordnen. Das geht bei Sprachen oder Software-Fähigkeiten leichter.

E-Learning löst diese Probleme

Mann guckt auf einen Laptop
Fotolizenz Pixabay 2019, (c) Manuel Alvarez / useche70

Das Online-Lernen braucht keine Gruppe zu einem bestimmten Zeitpunkt mehr. Jeder kann seine Lektionen bearbeiten, wann es passt. Damit können auch bei dünner Personaldecke die betrieblichen Belange mit den Fortbildungswünschen koordiniert werden.

Auch die Binnendifferenzierung ist einfach. Die Teilnehmenden können sich die Lernmodule auswählen, die sie brauchen. Nach persönlichem Bedarf kann der Lernweg verzweigt werden. Wenn jemand beispielsweise beim Modul „Mitarbeitergespräch“ merkt, dass er die Fragetechniken doch nicht so beherrscht, wie er das glaubte, kann er eine individuelle Vertiefung dort einbauen. So wird die Lernzeit effizient genutzt.

…aber es hat Grenzen

Bestimmte Inhalte lassen sich nur begrenzt online lernen. Wenn es um Verhalten, Einstellungen oder Gefühle geht, greifen die meist kognitiven Ansätze beim E-Learning zu kurz. Technisch kann man das heute schon darstellen, z. B. mit Serious Games – virtuellen Spielwelten, in die man mit einem Avatar eintaucht. Doch das ist noch extrem aufwändig.

Die normalen Online-Lernformen sind dagegen nichts Besonderes mehr. Sie ähneln der normalen Büroarbeit, weshalb sie wenig motivieren und eher ermüden. Da sie jederzeit zur Verfügung stehen, besteht kein Zeitdruck, und man schiebt das Lernen auf. Wie viele Webinare wollte ich mir ansehen? Kurzfristig setzte ich dann andere Prioritäten, wollte aber noch mal in den Podcast reinschauen, was ich regelmäßig vergesse.

Echte Menschen sind zum Lernen wichtig

Auch wenn der Trend zur Individualisierung dem Zeitgeist entspricht, ist die soziale Eingebundenheit für das Lernen wichtig. Selbst einfaches Wissenslernen wird beschleunigt, wenn da jemand ist, der fragt. Bei Verhaltenslernen ist der Kontakt zu Trainer und Gruppe ein wichtiger Katalysator. Es geht ja um persönliche Entwicklung, darum, seine Grenzen zu erweitern und über den eigenen Schatten zu springen. Dabei gibt der Rückhalt bei „echten Menschen“ Sicherheit und Mut zugleich. Wenn die Seminarkollegen einem etwas zutrauen, wenn der Trainer konstruktives Feedback gibt, obwohl man sich unsicher fühlt, dann ermöglicht das ein tieferes Erleben und eine Entwicklung, die mit digitalem Lernen nicht angestoßen würde.

Intelligente Kombinationen

Für die Praxis bieten sich daher Kombinationen an, das sogenannte Blended Learning. Präsenzformen werden ergänzt durch individuelles Online-Lernen.

Die Präsenz- Einheiten können als Seminar, Einzel- oder Gruppencoaching gestaltet werden. Dabei kann eine Aufbruchstimmung entstehen, die für die digitale Einzelarbeit motiviert. Der Trainer bekommt in der Folge eine Reihe neuer Aufgaben:

  • Technikaffine Teilnehmer müssen davon abgehalten werden, sich am ersten Abend voller Begeisterung durch das ganze Programm zu klicken. Das geschieht durch eine sukzessive Freischaltung von Lerninhalten.
  • Andere Teilnehmer brauchen Ermutigung, weil digitale Zugänge ihnen nicht so vertraut sind. Eine persönliche Betreuung auch im Lernmanagementsystem kann ihnen helfen.

Neben textbasierten Unterlagen sollten auch Audio- und Videodateien sowie interaktive Aufgaben zur Verfügung stehen, um alle Lerntypen zu fördern. Wenn es sich um eine Gruppenmaßnahme handelt, kann man ein Forum oder Chatkanäle zum Austausch zwischen den Teilnehmern einrichten.

Einzelmaßnahmen werden erschwinglich

Durch die Auslagerung von kognitiven Lerninhalten in digitale Arbeitsformen werden Fortbildungsmaßnehmen kostengünstiger. So sind interne Führungstrainings auch für kleine Firmen möglich, oder Coachings mit geringem Budget. Fortbildung soll die Arbeit erleichtern, und wenn sie durch digitale Formen eine größere Reichweite bekommt, ist das eine gute Entwicklung.

Seminare sind also kein Auslaufmodell – aber es zeichnen sich Veränderungen ab, die Vor- und Nachteile mit sich bringen.

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Sabine Neugebauer

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