Therapie-Apps als Modell für Online-Lernen im Berufskontext

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Erkenntnisse als Probe-Klient von Therapie-Apps

Letzten Winter habe ich ein kleines Experiment gemacht: Ich habe mich als Testnutzerin bei drei Therapie-Apps einschreiben dürfen*1 und Erfahrungen gesammelt: Wie gehen solche Programme vor? Wie lerne ich da und verändert es meine Einstellungen und mein Verhalten? Ziel meines Selbstversuchs war auch zu prüfen, was davon in einen beruflichen Lernkontext übertragbar ist.

Laptop, der Pillen zeigt
Fotolizenz Pixaby 2019, (c) Tumisu

1. Was sind Therapie-Apps

Mit Therapie-Apps meine ich hier digitale Unterstützungsprogramme für Klienten mit psychischen Störungen, die vor, während oder nach einer Psychotherapie genutzt werden können. Sie laufen auf PC, Tablet und meist auch Smart Phone. Im Vergleich zu „echten“ Psychotherapeuten sind sie sehr kostengünstig und deshalb für Kostenträger im Gesundheitswesen ein interessantes Produkt.

In den USA mit ihrer anderen Krankenversicherungsstruktur sind solche kostengünstigen Versorgungsangebote schon länger in Gebrauch und besser entwickelt, auch mit positiven Evaluierungsergebnissen. In Deutschland dringen sie nun auch in den Markt ein. Apropos Markt: Da gibt es vielfältige Abrechnungsvarianten: Therapie-Apps können als Medizinprodukt vom Arzt verordnet werden oder als Angebot einer Krankenkasse selbstständig genutzt werden, sofern entsprechende Verträge mit dem App-Anbieter abgeschlossen wurden. Daneben gibt es die Variante, als Klient das Angebot selbst zu bezahlen. Dies kann als einmaliger Kaufpreis oder als monatliches Abo gestaltet sein.

2. Weshalb könnten Therapie-Apps Vorbild für berufliches Online-Lernen sein?

Sie haben vergleichbare Ansatzpunkte

Im beruflichen Lernen geht es um Informationsaufnahme, also kognitives Lernen, aber auch um Einstellungs- und Verhaltensänderungen. Denn was nützt Wissen über Führungsgespräche, wenn man aus Gewohnheit doch bei autoritären Anweisungen bleibt?

(mehr zu Formaten des Lernens hier)

In der Psychotherapie geht es vorrangig um Veränderungen des Erlebens und Verhaltens im Sinne von psychischer Gesundheit. Jedoch spielt in modernen Therapie-Ansätzen (z. B. Kognitive Verhaltenstherapie, Schema-Therapie, ACT-Therapie) auch die Wissensvermittlung eine große Rolle. „Psychoedukation“, so lautet der Fachbegriff, bedeutet, den Klienten zum Fachmann seiner eigenen Störung zu machen. So kann er eigenständig und aktiv mitwirken, dass es ihm bessergeht.

Natürlich sind die konkreten Lernziele unterschiedlich. Im beruflichen Kontext soll etwa die Führungskompetenz oder die kundenorientierte Kommunikation verbessert werden. In einem Therapie-Setting geht es dagegen um das Bekämpfen von Depressionen, Angst oder Burnout. Aber ich finde, dass die inneren Prozesse dazu strukturell ähnlich sind. In beiden Zusammenhängen sind Veränderungen beim Wissen und dessen kognitiver Repräsentierung, bei Einstellungen und emotionalen Bewertungen sowie beim praktischen Können (Verhaltensebene) nötig. Wenn Therapie-Apps da gute Ansatzhebel liefern, dann kann das leicht auf die thematisch anderen beruflichen Lernfelder übertragen werden.

Sie sind ein schon erprobtes Format

Um in der Gesundheitsversorgung zugelassen zu werden, müssen Therapie-Apps ihre Wirkung nachgewiesen haben. Ich kann also davon ausgehen, dass das Format einer App von den Nutzern so angenommen wird.

In die Entwicklung solcher Apps wurde auch viel investiert, was die technische Ausstattung angeht, weil große Nutzergruppen erwartet werden. Eigens komponierte Musikstücke, eingesprochene Übungsaudios oder Videos sind integriert.

Durch den Vergleich verschiedener Apps bekomme ich zudem Unterschiede mit, was den Aufbau, die Medien und die Ansprache der Nutzer angeht. Ich erfahre, welche Variationsmöglichkeiten es gibt, und bekomme erste Eindrücke von deren Wirkung mit Vor- und Nachteilen.

3. Meine Erfahrungen mit novego, ProPerspektive und Selfapy

Diese drei Apps habe ich in der Version für depressive Klienten ausprobiert. Sie arbeiten mit Wochen-Lektionen, d.h. jede Woche wird ein neuer Bereich freigeschaltet, den ich bearbeiten kann. Insgesamt umfassen die Programme 6 Wochen (ProPerspektive) oder 12 Wochen. Dabei kann man den Stoff der Woche ein einem Rutsch durcharbeiten, was ein bis zwei Stunden erforderte, oder auf mehrere Tage verteilen, was ich empfehlen würde.

Welche Interventionen kamen vor?

  • Informationen zur Störung: Hintergründe, Verbreitung, Dynamik, Behandlung
  • Anregungen, etwas anders zu sehen / zu denken
  • Hinterfragen von Gedanken und Gewohnheiten (Kernelement der kognitiven Verhaltenstherapie)
  • Tipps, etwas anders / öfter zu machen
  • Beispielgeschichten (ProPerspektive): man begleitet quasi andere Klienten durch deren Hochs und Tiefs mit dem Programm
  • Übungsanleitungen und –unterlagen, z. B. Achtsamkeitsübungen, Hausaufgaben
  • Protokolle in der App: Aktivität und Befinden pro Woche, Schlafprotokoll, Stressprotokoll, Schmerzprotokoll (novego), Tages-Check (Selfapy)
  • Identifikation von persönlichen Ressourcen und Zielen (Selfapy)
  • SMS als Option zur täglichen Erinnerung und Motivation (novego)
  • Mail an einen betreuenden Psychologen, mit Aufpreis auch Telefonkontakt (Selfapy)
  • Verlaufskontrolle mit einem Fragebogen (Selfapy)

Bei den meisten Interventionen sind die Nutzer nur Empfänger, d.h. sie können lesen, hören, anschauen, downloaden und ausdrucken. Interaktive Features waren: Notizen machen, Lesezeichen setzen und Bewertungen abgeben. In den Verlaufskurven bekam ich Rückmeldung über meine Einträge und konnte Entwicklungen erkennen.

Bei allen drei Apps ist mir aufgefallen, wie positiv und respektvoll die Ansprache der Nutzer war.

Wirkungen und Grenzen

Bei der Beurteilung der Wirkung ist natürlich zu berücksichtigen, dass ich als Testklient nicht klinisch depressiv bin, sondern höchsten eine Art „Winter-Blues“ kenne :-). Trotz des dadurch fehlenden Leidensdrucks fühlte ich mich der jeweiligen Therapie-App während der Bearbeitungszeit durchaus verbunden!

Bei novego z. B. erwartete ich morgens die SMS und las sie, auch wenn ich wusste, dass da nur ein Computer „an mich denkt“. Auch als psychisch Gesunde empfand ich eine solches Programm als Bereicherung meiner Möglichkeiten, die potenziell stärkt. Mit meinem Psychologiestudium im Hintergrund erfuhr ich natürlich keine besonderen Neuheiten. Aber es ist nicht schlecht, mal wieder daran erinnert zu werden, wie man seine Gedanken und Gefühle positiv beeinflussen kann. An einem schlechten Tag habe ich durchaus mal abends eine Lektion gelesen oder ein Audio gehört.

Ärger oder Störgefühle haben die Apps nie verursacht. Ich fühlte mich immer respektvoll angesprochen, gerade auch durch die (wenigen) provokativeren Elemente.

Insgesamt empfand ich die Programme schon als leicht stimmungsverbessernd.

Die Grenzen der Therapie-Apps liegen im Transfer ins wirkliche Tun. Lesen, hören und anschauen – das ist leicht und gemütlich. Aber dann Übungen tatsächlich ausprobieren, Hausaufgaben wirklich erledigen? Das habe ich jedenfalls nicht getan.

Wenn ich an die originäre Anwendungssituation bei leichten und mittleren Depressionen denke, dann bin ich skeptisch, was eine Stand-alone-Behandlung angeht. Man kann sich zu einfach nur „durchklicken“. An harte Themen wird ein Klient kaum herangehen, eigene Fehlprägungen können wahrscheinlich nicht überwunden werden. Zudem stellen die Therapie-Apps hohe Anforderungen an das Selbstmanagement und an die sprachliche Abstraktionsfähigkeit.

Aber solche Programme können durchaus gute Ergänzungen zu einer persönlichen Therapie sein. Sie strukturieren mögliche Anwendungsübungen und Hausaufgaben des Klienten. Das kann helfen, die eigenverantwortlichen Aktivitäten zu erhöhen und damit die Selbstwirksamkeit zu stärken. Der Therapeut wird unterstützt und entlastet. Zudem sind die Therapie-Apps kostengünstig, modern und alltagstauglich.

4. Übertragbarkeit auf berufliche Online-Fortbildung

Individualisierung und zeitliche Flexibilität werden auch in der beruflichen Fortbildung immer wichtiger, wie ich in meinem letzten Blogbeitrag erläutert habe. Insofern ist ein Format einer „Coaching-App“ analog einer Therapie-App eine gute Idee.

Die Vielfalt von Darbietungsformen ist gut übertragbar: Texte, Audios, Videos, Metaphern, Arbeitsblätter & Übungen sind auch in einer Online-Fortbildung sinnvoll. Die individuelle Zeiteinteilung macht eine solche App für Fortbildungskunden praxisnah.

Eine zeitlich-inhaltliche Strukturierung analog des Wochenschemas ist auch bei beruflichem Lernen sinnvoll. Ein verteiltes, selbstbestimmtes Lernen wird am ehesten zu einem Lernerfolg beitragen. Zwischendurch kann das Gelernte in der Praxis ausprobiert werden: Die Kunden erkennen, was schon funktioniert!

Genau wie bei den Therapie-Apps wird die Eigenverantwortlichkeit von Fortbildungskunden gestärkt und deren Selbstwirksamkeit erhöht.

Wie Unterscheiden sich die Anwendungssituationen?

Fortbildungskunden haben in der Regel weniger „Leidensdruck“ als Therapieklienten. Hier braucht es eine andere, am besten intrinsische Motivation, um dabei zu bleiben. Zudem erwarten sie nicht, sich „ändern“ zu müssen, was allerdings auch in Seminaren und Coachings relevant ist. Dass aus (kognitivem) Wissen nicht gleich (Verhaltens-)Kompetenz folgt, muss hier wie da durch eine Nutzenargumentation und spezielle Ansprache erläutert werden.

Dagegen sind viele andere Faktoren im beruflichen Umfeld positiver: Im Vergleich zu den Therapieklienten können psychisch Gesunde auf bessere Fähigkeiten im Selbstmanagement und der Verhaltenssteuerung zugreifen. Ressourcen wie Selbstwert und soziale Unterstützung sind meist mehr vorhanden. Anders als in Therapieprozessen sind kaum Krisen zu erwarten, jedenfalls keine, die der Kunde nicht selbst beherrschen kann.

Gemeinsamer Knackpunkt: Transfermotivation

Beide Anwendungen, ob die Therapie-App oder eine Online-Lern-App, haben den Schwachpunkt, dass die Nutzer Transferübungen vernachlässigen und die Bearbeitung ganz einschlafen könnte. Und für beide Fälle halte ich die Kombination mit Face-to-face-Arbeit für eine gute Lösung.

Im Bereich der Fortbildung sollte eine Lern-App daher durch persönlichen Coachings- oder Seminarsettings ergänzt werden. Es gibt nichts, was besser motiviert, als ein „richtiger Mensch“!

Außerdem können im direkten Kontakt die Online-Arbeitsinhalte auf den jeweiligen Bedarf zugeschnitten werden. Wie in der Therapie, so wird auch im Coaching das Aufbrechen von „alten Mustern“ nur in der persönlichen Interaktion gelingen.

Doch vorher und nachher sind kognitive Inhalte und die wichtigen kleinen Schritte der Umsetzung im Alltag recht gut mit einer Online-Begleitung zu unterstützen!


*1 Ich bedanke mich bei LM+ Leistungsmanagement GmbH und IVPNetworks GmbH für die Testmöglichkeiten!

Über den Autor

Sabine Neugebauer

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