Die Grenzen grenzenloser Zusammenarbeit

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Ein kritischer Blick auf die Digitalisierung und virtuelle Zusammenarbeit eines Mitarbeiters im weltweiten Außendienst

Herr Vossberg (Name zum Zweck der Anonymisierung geändert) ist 34 Jahre alt, staatlich geprüfter Techniker und arbeitet im weltweiten Außendienst in der Stahlindustrie. In den letzten 8 Jahren hat Herr Vossberg die Welt bereist: Er arbeitete in Deutschland, Belgien, Niederlande, Österreich, Großbritannien, Schweden, Norwegen, Finnland, Italien, Spanien, Frankreich, Türkei, Taiwan, Indonesien, USA, Mexiko, Kanada, Thailand, Argentinien und Südafrika. Seine Aufenthalte in den verschiedensten Kulturen sind manchmal nach ein paar Tagen vorbei. Nicht selten verbringt er jedoch mehrere Wochen oder sogar Monate an einem Einsatzort, gelegentlich reist er von einem Ort auf der Welt direkt zum nächsten. Manchmal arbeitet Herr Vossberg zusammen mit Kollegen aus Deutschland am anderen Ende der Welt, oftmals ist er allein für seine Firma vor Ort. Auf das Thema der Digitalisierung und virtuellen Zusammenarbeit hat er seine ganz eigene Perspektive. Seine Tätigkeit kennt keine Grenzen, die Zusammenarbeit mit seinen Kollegen in der Firmenzentrale, die im Großraum Düsseldorf liegt, schon. Im Gespräch gewährt Herr Vossberg Einblicke in eine moderne, globalisierte Arbeitswelt, an der so nur wenige teilhaben – und er betont ihre Schattenseiten.

 

Die Planung

Dass der Job mit weltweiten Dienstreisen einhergehe, sei von Anfang an selbstverständlich klar gewesen, die virtuelle Planung und Unkontrollierbarkeit der Einsätze jedoch nicht. „Es gibt natürlich Einsatzorte und Kunden, da möchte man gerne hin, die sind in der Abteilung begehrt. Es lohnt sich, kulturell und finanziell. Wenn man also für eine solche Reise in der Plantafel gebucht ist, dann richtet man sein Privatleben darauf aus.“ Alles gut, wenn es so läuft. Häufig gibt es diese Möglichkeit nicht oder die Pläne gehen nicht auf. Lang im Voraus geplante Einsätze werden kurzfristig auf einen früheren oder späteren Zeitraum verlegt oder Einsätze für den nächsten Tag landen spontan per Balken in der Plantafel. „Es macht natürlich einen Unterschied, ob ich einen virtuellen Balken verschiebe oder eine Person vor Augen habe, deren Pläne für die nächsten Tage ich gerade über den Haufen werfe (…).  Als Mitarbeiter muss ich entscheiden, ob ich meiner Firma schade oder meiner Familie, meinen Hobbies, mir selbst.“ Auf die Frage, welche Alternative er für die Planung sehe, antwortet Herr Vossberg „man könnte dazu übergehen, sich erst einmal mit dem Menschen zu unterhalten, den man da sehr kurzfristig weit weg schickt, bevor man ihn virtuell verplant und er in eine Rechtfertigungssituation kommt. Im Gespräch lässt sich eigentlich immer eine Lösung oder ein Kompromiss finden. Wenn die Planung virtuell abgeschlossen ist, dann gibt es kein Planungsgespräch mehr, dann streitet man sich und das belastet alle Beteiligten.“

Es macht natürlich einen Unterschied, ob ich einen virtuellen Balken verschiebe oder eine Person vor Augen habe

Selbstverständlich ist eine Tätigkeit, wie sie Herr Vossberg ausübt, per se mit Begriffen wie „Work-Life-Balance“ oder „Life-Domain-Balance“ auf Konfrontationskurs. Ohne Instrumente wie Plantafeln, virtuelle Einsatzplanung etc. wird die Planungsabteilung mit Sicherheit nicht auskommen können. Herr Vossbergs Perspektive ist jedoch psychologisch nachvollziehbar. Es geht nicht darum, ob Herr Vossberg für einen bestimmten Zeitraum ein Projekt übernimmt und dafür Überstunden einkalkulieren muss, sodass sich Verfügbarkeit und Zeit für unterschiedliche Lebenswelten verschieben. Ist Herr Vossberg dienstlich auf Reisen, gibt es für ihn nur die Lebenswelt „Arbeit“. Wenn ein virtueller Balken so über das eigene Leben entscheiden kann, sind Gefühle der Unkontrollierbarkeit und Hilflosigkeit und schließlich Wut und/oder Niedergeschlagenheit auf Dauer die (psycho)logische Konsequenz. Um dem entgegenzuwirken, sollten den Mitarbeitern Handlungsspielräume und Entscheidungsfreiheiten zugesprochen werden, feste Ausgleichszeiten am Heimatort ebenso verbindlich in die Plantafel mit eingehen wie Reiseeinsätze. „Die Schuld liegt aber nicht in der Planungsabteilung, die Kollegen stehen natürlich auch unter Druck“, betont Herr Vossberg. Er sieht den ausschlaggebenden Punkt eher in einer allgemeinen Geschäftsphilosophie. „Man will dem Kunden alles Recht machen, nicht „Nein“ sagen und für ihn alles ermöglichen auf Kosten der eigenen Mitarbeiter. Dabei suchen wir händeringend nach neuen Kollegen.“

Der Einsatz vor Ort

Früher, so berichtet Herr Vossberg, sei es üblich gewesen, dass neben dem Mitarbeiter, der für die Hardware zuständig ist, auch ein Spezialist für die Software zum Kunden mitgereist sei.

Verbesserte und günstige Telekommunikation, wie auch die Möglichkeit zur virtuellen Zusammenarbeit, E-Mails, Messenger-Dienste, Remote-Systeme und interne Netzwerke  zur Information und Dokumentation ermöglichen die Zusammenarbeit mit den Kollegen in der Firmenzentrale. Ein Software-Spezialist reist nur noch gelegentlich mit.  „Das ist natürlich praktisch“, bestätigt Herr Vossberg, „der Knackpunkt ist, dass der Kollege in Deutschland auch erreichbar sein und an seinem Schreibtisch sitzen muss“.  Auf den Punkt gebracht lautet das Problem: Zeitverschiebung, Wochenendarbeit und die parallele Bearbeitung mehrerer Anlagen durch den Software-Spezialisten. „Probleme und Fehler sind vor Ort unvorhersehbar. Das kann sonntags sein oder mitten in der Nacht in Deutschland. Dann ist mein Ansprechpartner nicht erreichbar. Natürlich kann ich sofort eine E-Mail verschicken, aber es kommt zu langen Produktionsstillständen. Am Ende bin ich, als physisch anwesende Person und Ansprechpartner für den Kunden, derjenige, der dem Kunden sagen muss, dass es erst einmal nicht weitergehen kann.“ Und natürlich steht der Kunde selbst unter Druck, sieht den Produktionsausfall und die damit verbundenen Kosten. „Manche Kunden sind sehr nett und entspannt, sie verstehen, dass es nicht an mir liegt. Andere sind ganz anders, werden laut und teilweise aggressiv. Ich bin auch schon konkret von Kunden bedroht worden.“ Herr Vossberg denkt kurz nach und lacht: „Eigentlich bin ich Techniker, aber vor Ort, mit dem Kunden und seinen Mitarbeitern, in der ganzen Welt, da bin ich ganz oft Diplomat, Psychologe und Sozialarbeiter, muss Optimismus und gute Laune verbreiten, deeskalieren, manchmal mit Händen und Füßen, weil man keine gemeinsame Sprache spricht.“

Probleme und Fehler sind vor Ort unvorhersehbar. Das kann sonntags sein oder mitten in der Nacht in Deutschland.

Für Herrn Vossberg ersetzt kein virtuelles, noch so ausgeklügeltes System den Kollegen vor Ort. Der Gedanke der Effizienz und Kostenersparnis greife zu kurz. Herr Vossberg begründet dies mit dem persönlichen und betrieblichen Lernprozess. Die virtuelle Zusammenarbeit verkläre die Sichtweise, oft komme es zu beinah romantischen Vorstellungen über fremde Kulturen, die Realität sehe aber ganz anders aus. Die virtuelle Zusammenarbeit und die digitalisierte Kommunikation bremse aber auch den gesamtbetrieblichen Lernfortschritt aus. „Ich soll vor Ort Besonderheiten und Probleme der Anlage dokumentieren und in unserem Netzwerk ablegen. Das soll dann abends im Hotel erledigt werden.“ Der Sinn bestehe darin, dass Kollegen, die zukünftig an dieser Anlage arbeiten, besser informiert sind. Zusätzlich sollen immer wiederkehrende Probleme und Fehler in der Zentrale auffallen und gelöst werden. „Hier gibt es aber zwei Probleme: Erstens muss mein Arbeitstag auch irgendwann enden. Meine Motivation, abends in meinem Hotelzimmer immer wieder dieselben Probleme zu dokumentieren, geht gegen Null. Auch weil ich keine Konsequenz daraus bemerke. Das bringt mich zum zweiten Punkt. Dadurch, dass die Informationen einfach abgelegt werden, ist nicht geregelt, für wen genau ich dokumentiere, wer diese Information liest und ob es überhaupt irgendetwas bringt.“

Diese Form der digitalen Kommunikation kann also zur Verantwortungsdiffusion führen: Je mehr Mitarbeiter potentiell und tatsächlich die Information erhalten, desto weniger fühlt sich der Einzelne in der Verantwortung, sich mit dem Problem zu beschäftigen bzw. dieses zu lösen. „Viel sinnvoller ist ein direktes Gespräch mit einem definierten Ansprechpartner. Besonderheiten und gewisse Einzelheiten können im direkten Austausch viel effizienter berichtet werden.“

Die soziale Perspektive

Ich frage Herrn Vossberg, ob virtuelle und digitale Kommunikationsmittel nicht auch einen enormen sozialen Vorteil haben, gerade wenn man alleine am anderen Ende der Welt arbeite. Man spart schließlich teure Telefonkosten und per Messenger-Diensten lässt es sich doch leichter über mehrere Zeitzonen hinweg kommunizieren. „Ja und nein“, sagt Herr Vossberg.

„Im Kreis der Arbeitskollegen nutzen wir das sehr viel. Wir haben eine Chat-Gruppe. Wenn einer von uns unterwegs ist und ein Problem mit oder eine Frage zu einer Anlage hat, dann stellt er sie häufig in die Gruppe. Das geht dann oft schneller und ist effektiver als auf eine Antwort aus der Zentrale zu warten. Am Wochenende oder spät abends bekommt man dann schon Hilfe. Gerade die neuen Kollegen profitieren davon.“ Das klingt einleuchtend, hier scheint die virtuelle Zusammenarbeit ein großer Vorteil zu sein: Viele Adressaten, viele Leser, schnelle Hilfe. Aber nur auf den ersten Blick: Die Chat-Gruppe ist privat organisiert. Zur regulären Arbeitszeit zählt die Unterstützung hilfesuchender Kollegen nicht und selbstverständlich gibt es keine Garantie für die Unterstützung. Das private, soziale Engagement gleicht also die negative Konsequenz der Ersparnis eines weiteren Mitarbeiters vor Ort aus.

Die Zukunft: Augmented Reality

Das Unternehmen, für das Herr Vossberg arbeitet, überlegt jetzt, Augmented-Reality-Brillen für den Einsatz beim Kunden anzuschaffen. Damit sieht der Mitarbeiter in der Zentrale exakt das gleiche Bild, wie der Mitarbeiter vor Ort. Der Spezialist in der Zentrale kann auch bestimmte Stellen im Sichtfeld markieren und damit effektiv und effizient Hilfestellungen und Anweisungen geben. „Das ist natürlich im Einzelfall eine enorme Hilfe“, bestätigt Herr Vossberg. Aber er denkt auch einen Schritt weiter: „Früher haben in unserer Abteilung ausschließlich Techniker und Ingenieure gearbeitet, also absolute Fach- und Spitzenkräfte mit entsprechenden Gehältern und Ansprüchen. Inzwischen werden vermehrt Gesellen der Elektrotechnik oder Mechatronik, oft ohne konkrete Berufserfahrung, eingestellt. Die haben natürlich ganz andere Gehaltsvorstellungen, sind also kostengünstigeres Personal. Dass die den Anforderungen unserer Tätigkeit genauso gerecht werden, wie Ingenieure, ist ein Irrglaube.“ Die Augmented-Reality-Brille kann da natürlich Abhilfe schaffen, erleichtert die Einarbeitung und macht sie kosteneffizienter. „Noch einen Schritt weiter könnte man komplett ungelerntes Personal zum Dumpingpreis zum Kunden schicken oder den Serviceeinsatz komplett streichen, indem man dem Kunden direkt diese Brille gibt. Das sorgt auf lange Sicht für den Abbau von Arbeitsplätzen und gleichzeitig leidet die Qualität des Produkts und des Kundenservice.“

Ob diese Entwicklung langfristig sowohl firmen- als auch gesellschaftspolitisch wünschenswert ist, daran hat Herr Vossberg starke Zweifel.

 

Über den Autor

Prof. Dr. Nora Walter
Von Prof. Dr. Nora Walter

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